Als Tic werden kurze, wiederkehrende einfache, oder komplexe motorische Aktionen bezeichnet. Das können kurze Kontraktionen einzelner Muskeln, Stirnrunzeln, oder etwas komplexere Bewegungsabläufe wie Kopfwenden, Grimassieren bis hin zu kurzen Handlungsabläufen sein.
Eine weitere Form sind vokale Tics. Das können kurze ausgestoßene Laute, Räuspern, Zunge schnalzen, Grunzen, Schnüffeln, usw. bis hin zu Wörtern, oder Sätzen sein.
Für Betroffene besonders unangenehm und für die Umbgebung oft verstörend sind das Nachahmen von Bewegungen, oder obszöne Bewegungen, oder unanständige Wörter oder Sätze. Diese kommen vor und werden oft mit dem Tourette-Syndrom in Verbindung gebracht, sind aber durchaus nicht „das“ Charakteristikum.
Die primären Tic-Störungen beginnen meist im Kindesalter. Sie können nach einiger Zeit, oder nach der Pubertät spontan wieder aufhören, oder lebenslang mit fluktuierendem Verlauf persistieren.
Die diagnostische Einteilung erfolgt danach, ob nur motorische, nur vokale, oder kombinierte Tics auftreten und nach der Dauer der Störung.
Die bekannteste Tic-Störung ist das Gilles de la Tourette Syndrom, das durch multiple motorische und kombinierte vokale Tics gekennzeichnet ist, die länger als ein Jahr andauern.
Die anerkannte Ursache der Tic-Störungen ist genetisch. Darüber hinaus werden aber autoimmunologische oder infektiöse Auslöser diskutiert.
Der genaue Pathomechanismus ist nicht bekannt. Der Schädigungsort liegt aber in den Stammganglien. Verschiedene Neurotransmitter, insbesondere Dopamin spielen dabei eine Rolle.
Die Prognose ist insofern günstig, als die Lebenserwartung durch die Störung nicht beeinflusst ist und auch keine fortschreitende Verschlechterung zu erwarten ist. Außerdem sind Tics im Allgemeinen nicht Zeichen oder gar erste Symptome einer anderen neurodegenerativen Erkrankung.
Die Störung kann, wenn sie im Kindesalter erstmals auftritt spontan nach einigen Wochen, oder Monaten wieder abklingen, oder mit der Adoleszenz ausheilen. In anderen Fällen zeigt sie allerdings einen fluktuierenden chronischen Verlauf. Das heißt sie ist immer vorhanden und es gibt Phasen in denen die Symptome weniger auftreten und Phasen in denen sie vermehrt auftreten
Es gibt keine kausale Therapie der Störung. Also eine Therapie, die die Ursache behebt und damit eine Heilung bewirkt. Alle bis jetzt bekannten Therapieansätze sind nur symptomlindernd.
Somit ist in leichten Fällen, wenn die betroffene Person damit zurecht kommt, auch keine Therapie nötig.
Die Symptome können aber, vor allem in der persönlichen Interaktion und im sozialen Umfeld als so unangenehm empfunden werden, dass eine symptomatische Therapie angestrebt wird. Ein anderer Grund für eine Therapie ist das Auftreten von Schmerzen durch die motorischen Tics.
Als nicht-medikamentöse Therapieverfahren werden spezielle verhaltenstherapeutische Methoden, vor allem das Habit-Reversal-Training angewandt. Begleitend können auch Entspannungsverfahren eingesetzt werden. Als alleinige Methode sind Entspannungsverfahren nicht wirksam. Auch andere Psychotherapiemethoden sind gegen die Störung selbst wirkungslos.
Medikamentös werden vor allem Substanzen mit Wirkung auf das dopaminerge System (Dopamin als Neurotransmitter) eingesetzt.
Das sind vor allem Neuroleptika. Dabei haben alte Neuroleptika wie Tiaprid (Delparl(R)) oder Haloperidol noch einen traditionellen Stellenwert.
Sie sind aber nebenwirkungsreicher, als neuere Substanzen und werden daher von diesen in der Praxis abgelöst.
Neuere Neuroleptika, die in der Behandlung des Tourette-Syndroms eingesetzt werden, sind vor allem Risperidon und Aripiprazol.
Ebenfalls über das Dopaminsystem wirkt die Substanz Tetrabenazin, die die Verfügbarkeit von Dopamin im synaptischen Spalt verringert.
Die Anwendung von Cannabis-basierten Medikamenten bei Tic-Störungen ist allgemein akzeptiert, wenn auch wissenschaftlich noch nicht sehr gut abgesichert.
Für mich persönlich war die einrucksvolle Fallbeobachtung der Wirksamkeit von Cannabis bei einem Patienten mit Gilles de la Tourette Syndrom sowohl ein wesentlicher Grund mich mit Cannabis in der Medizin, als auch mit dem Tourette-Syndrom selbst näher zu beschäftigen.
Die Wirksamkeit von illegal erworbenem gerauchten Cannabis war bei diesem einen Patienten so gut, dass ich bis zu dem Zeitpunkt, an dem er kein Cannabis auftreiben konnte, nicht einmal von dieser Störung wusste. Als er eben einmal ohne Cannabisgebrauch in die Ordination kam, zeigte sich ein Vollbild mit massiven motorischen und auch vokalen Tics, auch mit der so eindrucksvollen Koprolallie. Nachdem es ihm wieder gelungen war, Cannabis aufzutreiben, war die Symptomatik wieder völlig weg.
In einem anderen ähnlichen Fall bemühte ich mich vor einigen Jahren sehr für einen Patienten, dem Cannabis ähnlich gut, wie dem oben beschriebenen half, eine Kostenübernahme für Dronabinol (THC) zu erreichen. Als es endlich gelungen war, war die Enttäuschung groß. Es wirkte praktisch nicht. In Cannabis (Hanf) sind eben zahlreiche andere Substanzen enthalten. Am bekanntesten ist das zweite gut erforschte Cannabinoid Cannabidiol (CBD), aber auch Terpene und Flavonoide. In diesem individuellem Fall wirkt eben die ganze Hanfpflanze, in Form von Marihuana geraucht sehr gut, THC als Monosubstanz oral eingenommen nicht.
Beide Patienten sind noch heute, wegen anderer Störungen bei mir in Betreuung und der Langzeitverlauf bestätigt die ersten Beobachtungen.
Aufgrund der allgemeinen Verschreibungspraxis und des Umstandes, dass längere Zeit für Dronabinol (THC) von der Krankenversicherung eher die Kosten übernommen wurden, als für den ebenfalls verfügbaren auf THC und CBD normierten Extrakt aus der Pflanze, Nabiximols (Sativex(R)), verschrieb ich bisher häufiger Dronabinol. Die Wirksamkeit ist in unterschiedlichem Ausmaß gegeben. Eine solche verblüffende und vollständige Wirkung, wie bei meinem allerersten Tourette Patienten habe ich ehrlich gesagt nie wieder gesehen. Gute Erfolge sind aber häufig.
Besonders interessant am Einsatz von Cannabis beim Tourette Syndrom ist, dass es auch bei den am häufigsten vorkommenden Begleitstörungen ADHS und Zwang eine positive Wirkung habe kann.
Zusammenfassend halte ich aufgrund meiner Erfahrungen und den Berichten in der Literatur die Anwendung von cannabisbasierten Medikamenten beim Tourette Syndrom für eine oft wirksame, im Allgemeinen nebenwirkungsarme und sichere Option, die im Rahmen eines individuellen Heilversuchs bei gegebenem Leidensdruck eingesetzt werden sollte.