Ein Tic ist eine kurze, umschriebene oft nicht rhythmisch wiederholte Kontraktion einzelner Muskeln oder Muskelgruppen (motorischer Tic) oder eine Lautproduktion, die ebenfalls plötzlich einsetzt und wiederholt sein kann und keinem Zweck dient (vokaler Tic).
Motorische Tics können einfach sein wie Blinzlen, Schulterzucken, Kopfwenden, Grimassieren, oder komplex wie z.B. sich selbst schlagen, springen oder hüpfen, Ausführen von Gesten, Wiederholen von Gesten (Echopraxie), auch Gesten obszöner Bedeutung (Kopropraxie).
Vocale Tics können einfach sein wie Räuspern, Bellen, Schnüffeln, Zischen, oder komplex wie Palilalie (wiederholen eigener Sätze oder Wörter), Echolalie (wiederholen von Sätzen oder Wörtern des Geprächspartners), Koprolalie (obszöne Wörter, oder Sätze).
Die vorübergehende Ticstörung ist durch motorische oder vokale Tics gekennzeichnet, die kürzer als 12 Monate anhalten. Sie ist eine relativ häufige Störung im Kindes- und Jugendalter und bedarf keiner spezifischen Therapie. Aufklärung (Psychoedukation) ist in den meisten Fällen die Therapie der Wahl. Von Seiten des Umfeldes und der Eltern der Kinder ist vor allem Akzeptanz angebracht.
Die chronische Ticstörung dauert länger als ein Jahr an und es sind entweder motorische oder vokale Tics vorhanden.
Die vokalen und multiplen motorischen Tics treten bei dem selben Patienten auf, verschlechtern sich meist in der Adoleszenz und überdauern dabei das Jugendalter.
Die typischen Ausprägungen der Tics beim Tourette Syndrom sind Blinzeln, Naserümpfen, Schnüffeln, Schulterzucken, Grimassieren, Hüsteln, Räuspern, oder das Ausstoßen einzelner Silben.
Komplexere motorische Tics wie Gesten, die möglichst durch Einbau in adäquate Bewegungsabläufe verborgen werden oder komplexe vokale Tics wie Palilalie (eigene Worte, oder Sätze werden wiederholt) oder Echolalie (Worte des Gesprächspartners werden wiederholt) kommen vor.
Die von Laien manchmal als typisch angenommene Kopropraxie (Ausführen obszöner Gesten) oder Koprolalie (Ausstoßen obszöner Worte oder Sätze) sind beim Tourette Syndrom insgesamt eher selten und werden auch wenn sie bei einem Patienten vorhanden sind, typischer Weise nicht ständig beobachtet.
Vor dem Auftreten von Tics kommt es häufig zu einem Vorgefühl. Das ist ein unangnehmes Gefühl, eventuell Druck, das im ganzen Körper, häufiger aber in der danach von Tics betroffenen Körperregion wahrgenommen wird. Der Tic kann auch als erlösende Beendigung des Vorgefühls empfunden werden.
Die Tics des Tourette Syndroms beginnen typischer Weise im frühen Jugend- oder Kindesalter und überdauern die Adoleszenz, bzw. werden bis zum jungen Erwachsenenalter stärker, auch wenn Phasen geringerer Symptomlast dazwischen vorkommen.
Der Verlauf des Tourette-Syndroms ist fluktuierend. Das heißt, es kommen relativ gute Phasen und Phasen mit stark ausgeprägter Symptomatik vor. Dieser Umstand erschwert auch die Einschätzung von Therapieeffekten.
Stress wird allgemein als symptomverstärktend, Entspannung aber auch Ablenkung, z.B. durch Konzentration auf Tätigkeiten, als symptomlindernd angegeben.
Eine genetische Disposition wird angenommen, was auch durch Studien untermauert wird. Eine genaue Definition dieser Störung ist aber noch nicht gelungen. Außerdem bestehen Hypothesen, dass Infektionen eine Rolle spielen könnten, wieder ohne klare bewiesene Kausalkette.
Funktionell anatomisch sind sicher die sogenannten Basalganglien an der Störung beteiligt und die Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und das Endocanabinoidsystem spielen eine Rolle.
Eine ursächliche Therapie und Heilung von Tic-Störungen ist nicht möglich. Die Therapie ist also ausschließlich symptomatisch.
Eine Nicht-Behandlung führt nicht zu einem schlechteren Verlauf der zugrundeliegenden Störung. Die psychosoziale Belastung kann aber durch Nicht-Behandlung verstärkt sein.
Wie oben schon erwähnt, verschwinden die Tic-Störungen insbesondere bei Kindern oft innerhalb eines Jahres. Wenn die Störungen kein im Alltag bedeutsames Leiden bedingen, ist eine Therapie nicht unbedingt nötig. Aufklärung der Eltern und des sozialen Umfeldes, sowie Akzeptanz der Störung sind angebracht.
Wenn die Störung schwerer ausgeprägt und andauernd ist, wie das beim typischen Gilles de la Tourette Syndrom oft vorkommt, können therapeutische Maßnahmen angebracht sein.
Vor Beginn einer Therapie ist es wesentlich ein realistisches Therapieziel zu definieren. Das kann eine Reduktion der Tics um 30-50%, sowie eine Besserung der Begleitstörungen sein.
Zur Verfügung stehen spezielle verhaltenstherapeutische Verfahren und pharmakologische Möglichkeiten. Eine Kombination ist dabei natürlich möglich und sinnvoll.
In Studien zeigten die verhaltenstherapeutischen Verfahren Habit Reversal Training (HRT), Exposure and Response Prevention (ERP) und das Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT) positive Effekte. Sie sind allerdings in der Praxis nicht überall verfügbar. Internetbasierte Angebote könnten hier in naher Zukunft eine Verbesserung bewirken.
Pharmakologische Möglichkeiten greifen in das Dopaminsystem ein (z.B.: Aripiprazol, Risperidon, Haloperidol, Tetrabenazin), wirken über das noradrenerge System (Clonidin, Guanfacin), beeinflussen das GABA-System (Topiramat) oder das Endocannabinoidsystm.
Das einzige Medikament, das in Europa eine Zulassung für die Behandlung von Tics hat, ist Holoperidol. Dieses wird aber, da inzwischen nebenwirkungsärmere Medikamente zur Verfügung stehen, praktisch nicht mehr eingesetzt. Alle anderen Medikamente werden also „off label“ das heißt ohne Zulassung in der Indikation Tic oder Tourette-Syndrom eingesetzt.
Von der Verschreibungshäufigkeit und der Empfehlungslage hat sich in Europa Aripiprazol durchgesetzt, das eine gute Wirkung gegen Tics hat und als gut verträglich gilt.
Durch zahlreiche Fallberichte und Studienergebnisse wird eine gute Wirksamkeit der Selbstanwendung von Cannabis und der medizinischen Anwendung von cannabisbasierten Medikamenten nahegelegt.
Für eine solche Anwendung sprechen neben der guten Wirksamkeit, der Sicherheit und den geringen Nebenwirkungen auch zu erwartende Effekte auf Begleitsymptome wie Zwänge, ADHS, Ängste, innere Anspannung und eventuell depressiver Stimmungslage.
Die Anwendung von Cannabis-basierten Medikamenten bei Tic-Störungen ist allgemein akzeptiert, wenn auch wissenschaftlich noch nicht sehr gut abgesichert.
Für mich persönlich war die einrucksvolle Fallbeobachtung der Wirksamkeit von Cannabis bei einem Patienten mit Gilles de la Tourette Syndrom sowohl ein wesentlicher Grund mich mit Cannabis in der Medizin, als auch mit dem Tourette-Syndrom selbst näher zu beschäftigen.
Die Wirksamkeit von illegal erworbenem gerauchten Cannabis war bei diesem einen Patienten so gut, dass ich bis zu dem Zeitpunkt, an dem er kein Cannabis auftreiben konnte, nicht einmal von dieser Störung wusste. Als er eben einmal ohne Cannabisgebrauch in die Ordination kam, zeigte sich ein Vollbild mit massiven motorischen und auch vokalen Tics, auch mit der so eindrucksvollen Koprolalie. Nachdem es ihm wieder gelungen war, Cannabis aufzutreiben, war die Symptomatik wieder völlig weg.
In einem anderen ähnlichen Fall bemühte ich mich vor einigen Jahren sehr für einen Patienten, dem Cannabis ähnlich gut, wie dem oben beschriebenen half, eine Kostenübernahme für Dronabinol (THC) beim Krankenversicherungsträger zu erreichen. Als es endlich gelungen war, war die Enttäuschung groß. Es wirkte praktisch nicht. In Cannabis (Hanf) sind eben zahlreiche andere Substanzen enthalten. Am bekanntesten ist das zweite gut erforschte Cannabinoid Cannabidiol (CBD), aber auch Terpene und Flavonoide. In diesem individuellem Fall wirkte eben die ganze Hanfpflanze, in Form von Marihuana geraucht sehr gut, THC als Monosubstanz oral eingenommen nicht.
Beide Patienten sind noch heute, wegen anderer Störungen bei mir in Betreuung und der Langzeitverlauf bestätigt die ersten Beobachtungen.
Aufgrund der allgemeinen Verschreibungspraxis und des Umstandes, dass längere Zeit für Dronabinol (THC) von der Krankenversicherung eher die Kosten übernommen wurden, als für den ebenfalls verfügbaren auf THC und CBD normierten Extrakt aus der Pflanze, Nabiximols (Sativex(R)), verschrieb ich bisher häufiger Dronabinol. Die Wirksamkeit ist in unterschiedlichem Ausmaß gegeben. Eine solche verblüffende und vollständige Wirkung, wie bei meinem allerersten Tourette Patienten habe ich ehrlich gesagt nie wieder gesehen. Gute Erfolge sind aber häufig.
Besonders interessant am Einsatz von Cannabis beim Tourette Syndrom ist, dass es auch bei den am häufigsten vorkommenden Begleitstörungen ADHS und Zwang eine positive Wirkung habe kann.
Zusammenfassend halte ich aufgrund meiner Erfahrungen und den Berichten in der Literatur die Anwendung von cannabisbasierten Medikamenten beim Tourette Syndrom für eine oft wirksame, im Allgemeinen nebenwirkungsarme und sichere Option, die im Rahmen eines individuellen Heilversuchs bei gegebenem Leidensdruck eingesetzt werden sollte.
In letzter Zeit werden vermehrt bizarre Verhaltensweisen beobachtet, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Beschreibungen eines Tourette-Syndroms zeigen und gelegentlich auch als solches fehldiagnostiziert werden.
Für das Vorliegen einer funktionellenTourette-ähnlichen Störung sprechen ein abrupter Beginn im späten Jugend-, oder Erwachsenenalter, das zur Schau stellen von bizarren komplexen Tics oft mit überwiegen von Koprolalie und Kopropraxie oder überrgriffiges Verhalten anderen Menschen gegenüber.
Die Ursachen und begünstigenden Bedingungen einer funktionellen Tourette-ähnlichen Störung sind vielfältig und wissenschaftlich noch nicht ausreichend definiert. Das Spektrum mag von dem Bedürfnis Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, Nachahmung, sekundärem Krankheitsgewinn bis hin zur dissoziativen Störung reichen. Somit ist die Ursache nicht durch eine Störung im Bereich des ZNS, sondern als psychogen zu erklären. Die psychogene Ausgestaltung eines Tourette-Syndroms im Sinne einer Agravierung, oder einer komorbid vorliegenden funktionellen Tourette-ähnlichen Störung ist insbesondere bei Vorhandensein eines sekundären Krankheitsgewinnes denkbar.
Die angemessene Therapie ist eine Psychotherapie. Allenfalls können komorbide psychische Erkrankung eine medikamentöse Therapie erfordern.